Diplomarbeit (2005) Leseprobe Kapitel 3.5.3
3.5.3 Freude an der Bewegung
Obwohl die Anforderungen an das Kurierfahren vor allem körperlich alles andere als gering sind, so wirkt es dennoch für viele Menschen als eine Tätigkeit, wo sie Abstand vom Alltag gewinnen können, um zu sich selbst zu finden. Ähnlich wie beim einsamen Joggen im Wald oder beim Skilanglauf in der verschneiten Winterlandschaft treten dabei auch meditative Elemente in den Vordergrund:
„Manchmal hat man da so eine Gleichmut und fährt vor sich hin und ich finde es auch ganz gut, dass ich da für mich bin und nachdenken kann –mich schon irgendwie konzentrieren muss –aber trotzdem noch, so die Bewegung ist auf alle Fälle total wichtig!“ (Anne, 18. Februar 2005, S.8)
Das ist nur möglich, indem das Kurierfahren den Eintritt in eine Art Parallelwelt gestattet. Das Anlegen der funktionellen Fahrradausrüstung wirkt dabei wie der Wechsel in eine andere Identität. Schon mit den ersten Tritten in die Pedale scheinen diese mit den Füßen zu verschmelzen und wie Sieben-Meilenstiefel in windeseile über die Erde zu tragen. Auf dem Fahrrad scheinen im Fluss der Bewegung die Sorgen des Alltags aufgehoben. Wie auch im richtigen Leben, so findet der Fahrradkurier sein wahres Glück nur im gegenwärtigen Moment des Augenblicks, wenn er sich auf den Weg konzentriert und nicht auf das Ziel, nach dem er eigentlich strebt. Nur so kann er seine Aufmerksamkeit auf die feinen Bewegungsabläufe fokusieren, wenn er „im tiefen Verkehr sich einordnet und sich da so durchschlängelt“ (Anne, 18. Februar 2005, S. 9). Die einen Fahrradkuriere finden dabei ihre Erfüllung in der kurvenreichen Fahrweise, in der sie die vielen unbewegten Objekte um sich herum wie in einem Tanz spielerisch umfahren. Die Umgebung lädt zum Tanz, indem individueller Kurvenrhythmus und Pedaleinsatz harmonisch auf die sich ständig wechselnden äußeren Bedingungen abgestimmt werden müssen. Langeweile kommt dabei garnicht erst auf, denn der „Tanzpartner“ ist beim Kurierfahren nie der selbe.
Andere Fahrradkuriere wiederum fahren wie auf Schienen, die sich gedanklich durch die städtischen Straßenzüge ziehen. In zügigem Tempo erzeugen sie in ihren Beinen, gleich den Turbinen in einer Dampflokomotive, eine unbändige Kraft, die sie unaufhaltsam immer weiter vorantreibt: „Spaß macht einfach Freude an der Bewegung, [...] seine Kraft spüren, seine Energie spüren, seine Power spüren, immer in Bewegung sein, nie am gleichen Ort“ (Toni, 14. März 2005, S.14).
Beide Typen haben letzten Endes gemeinsam, dass sich nach längeren Fahrten aufgrund der Ausschüttung von körpereigenen Hormonen (v.a. Endorphine) Glücksgefühle und der so vielgepriesene „Flow“-Effekt einstellen:
„[...] unter Tags, wenn du Gas gibst und dann gegen zwei-, drei-, vier Uhr, wenn ich schrecklich viel gefahren bin, da denkst du garnicht mehr viel. Da bin ich schon richtig weg. [...] Das ist wie eine Droge!“ (Valerija, 14. März 2005, S.12)
Die Kombination aus innerer Freiheit durch totale Handlungskontrolle und äußerer Freiheit durch die Missachtung jeglicher Verkehrsregeln ermöglicht das grenzenlose Ausleben der Bewegungsfreude im Bewusstsein der Allmächtigkeit über Zeit und Raum:
„I see the slowly choreographed processions, but I float right through their rules every chance I get. The streetlights and moving parking lots do not hold me up. Red means red and green means green: I keep tempo regardless. I am free to move as I wish, piercing gridlocked intersections, snaking between cars, and running the wrong way up one-way streets. I get juiced by this. I feel like I’m flying. I can be anywhere all at once, like I can fucking evaporate!” (Culley, 2002, S.189)